Gedanken zum Friedenszeugnisses aus radikalpazifistischer Perspektive
Als Angehörige einer Friedenskirche, ob mennonitisch oder quakerisch, sind wir durch den Ukraine-Krieg aufs neue herausgefordert unsere Position zum Friedenszeugnis zu überdenken und zu verteidigen. Auch in der Kreflder Mennoniten-Gemeinde findet deshalb eine intensive Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine stattfindet.
Nur kurz zu mir: als konservativer bzw. christozentrischer Quaker bin ich nicht repräsentativ für die Mehrheit der deutschsprachigen Quaker, die im liberalen Flügel zu verorten sind. Ich vertrete eine radikalpazifistische Position. Im deutschsprachigem Raum liegt die Anzahl von Quakern im niedrigen dreistelligen Bereich. Aufgrund der theologischen Nähe, habe ich in meinen jeweiligen Wohnorten Berlin, München, Augsburg und nun auch Krefeld stets Kontakte zu mennonitischen Gemeinden gepflegt.
Aus dieser Perspektive möchte ich hier meine Position zur Aktualität des Friedenszeugnisses skizzieren.
Inhalt
- Historisches Friedenszeugnis
- Identifikation über das Friedenszeugnis
- Der gelebte Glaube in der Gegewart
- Selbstvergewisserung und Gemeindedisziplin
- Die Frage der Rechtfertigung, ist die Grundlage des Friedenszeugnisses
- Ist es legitim zu fragen, was hätte Jesus getan?
- Ist Gewalt gleich Gewalt?
- Gewalt als notwendiges Übel? Heiligt das Ziel die Mittel?
- Frieden ohne Gerechtigkeit?
- Zwischenfazit
- Pazifismus als Bedrohung
- Die Logik des Krieges
- Quaker guns
- Wer zahlt am Ende die Zeche und wie fällt die Rechnung aus?
- Update 21.10.2022
Historisches Friedenszeugnis
Die Schleitheimer Artikel1, die mir als mennonitische Bekenntnisschrift zum Friedenszeugnis bekannt sind, haben, soweit ich verstanden habe, nicht die gleiche Bedeutung, wie das historische Friedenszeugnis der Quaker, das 1661 König Charles II überreicht wurde. Deshalb kann und will ich nicht beurteilen, ob das Friedenszeugnis für Mennoniten die gleiche Verbindlichkeit hat, wie für Quaker. Durch das Friedenszeugnis der Mennoniten, sahen die frühen Quaker aber in den pazifistischen Mennoniten ehrliche Christen 2.
Für Quaker war das Friedenszeugnis nicht in erster Linie, das Stück Papier, das dem König überreicht wurde, sondern die gelebte Wehrlosigkeit. Aufnahme und Mitgliedschaft in die Quaker-Gemeintschaft war abhängig von dieser gelebten Praxis und nicht von alleinigen Lippenbekenntnissen. Junge Männer, die zum Militärdienst rekrutiert wurden, ob mit oder gegen ihren Willen, verloren sofort ihre Mitgliedschaft. Nach den Militärdienst konnten sie sich jedoch wieder um die Mitgliedschaft bemühen.3
Identifikation über das Friedenszeugnis
Ich stelle mir deshalb die Frage: wäre ein Quakertum ohne Friedenszeugnis wirklich noch ein Quakertum? Und ist das Mennonitentum wirklich noch ein Mennonitentum ohne Friedenszeugnis?
Bei Quakern ist das Friedenszeugnis über alle Kontinente und über alle theologischen Ausrichtungen hinweg Konsens. In den Augen der frühen Quaker war Gewaltlosigkeit der Kern und das Merkmal des wahren Christentums. Da heutzutage nicht alle Quaker christozentrisch ausgerichtet sind, hat die Fragestellung ob wahrer christlicher Glaube zwingend Gewaltfreiheit voraussetzt, keine Relevanz mehr für das Quakertum als Ganzes. Im Gegenteil nontheistische Quaker würden sich sogar darin bestätigt fühlen, ihre christlichen Wurzeln gekappt zu haben, wenn andere Christen in Frage stellen ob christliches Leben wirklich zwingend Gewaltlosigkeit voraussetzt. Das zeigt, dass im Quakertum das gelebte Friedenszeugnis wichtiger ist, als seine theologische Begründung.
Nicht jeder Pazifist ist deshalb automatisch ein Quaker, auch wenn er damit schon auf dem guten Weg ist. Denn es kommen noch drei weitere Zeugnisse 4 hinzu und der Glaube an das Innere Licht. Ein Quaker ohne Friedenszeugnis wiederum, ist für mich kein Quaker. In der Geschichte lassen sich zwar kuriose Sonderfälle wie die “Free Quakers”5 finden, die im Amerikanischen Bürgerkrieg mitkämpften, aber das war äußerst selten. Mir persönlich, fällt es schwer, jemanden ohne Friedenszeugnis als Christen zu betrachten.
Der gelebte Glaube in der Gegewart
Sich als Mennonit (oder Quaker) immer nur auf seine spannende Geschichte zu berufen, und allein daraus seine Identität abzuleiten, reicht aus meiner Sicht nicht aus, um sich Mennonit, Quaker oder Friedenskirche zu nennen.
[…] Bildet euch nur nicht ein, ihr könntet euch damit herausreden: ›Abraham ist unser Vater!‹ Ich sage euch: Gott kann selbst aus diesen Steinen hier Nachkommen für Abraham hervorbringen. Mt 3,9 6
Ich bin der Meinung, man muss auch das konsequente Leben der frühen Quaker bzw. Mennoniten führen und bereit sein, die Konsequenzen, zu tragen. Von meinen Glaubensgeschwistern erwarte ich, dass sie mich darin bestärken und unterstützen. Der Arbeitsausschuss der britischen Quaker heißt übrigens noch immer Meeting for sufferings (Treffen für Leiden).
Natürlich leben wir nicht mehr wie vor 300 oder 400 Jahren. Wir leben in einer anderen Welt mit anderen Herausforderungen. Das Seelenheil hängt nicht davon ab, jeden Abend die Bibel bei Kerzenschein zu lesen und mit dem Pferd zur Arbeit zu reiten. Dennoch sollten wir auch heute bereit sein in Demut die Opfer zu erbringen, die es erfordert unserem Glauben und unserer inneren Stimme zu folgen. Damals wie heute, mit dem Ziel vor Gott zu bestehen und mit ihm ins Reine zu kommen.
Selbstvergewisserung und Gemeindedisziplin
Wie bekommt man es hin, als Glaubensgemeinschaft nicht einerseits in völlige Unverbindlichkeit und Beliebigkeit abzudriften, und andererseits nicht eine Enge aus sozialer Kontrolle und Misstrauen zu schaffen? Wenn Glaubenssätze nicht hinterfragt werden dürfen, droht Erstarrung und sinnentleerter Formalismus. Wenn wir nach Außen kein erkennbares Profil mehr besitzen, werden wir von Suchenden nicht erkannt und nicht gefunden.
Quaker haben eine lange Tradition der “Ratschläge und Fragen”, die bis in das Jahr 1682 zurück reicht. Die kollektive oder individuelle Reflexion über diese Fragen, dient der Selbstvergewisserung des Einzelnen und der Gruppe. Diese Fragen berühren die Glaubensgrundsätze und Lebenspraxis7 des Quakertums. Hier ein Beispiel:
Wir sind aufgerufen zu leben „in der Nachfolge des Lebens und der Kraft, welche die Ursache aller Kriege beseitigt“. Haltet ihr unser Zeugnis gegen jeden Krieg, gegen alle Kriegsvorbereitungen getreu aufrecht, da sie unvereinbar mit dem Geist Christi sind? Erforsche, was in deinem eigenen Leben den Keim des Krieges in sich trägt. Halte an unserem Zeugnis fest, selbst wenn andere Gewalttaten begehen oder vorbereiten; denk jedoch immer daran, dass auch sie Kinder Gottes sind. 8
Über diese Frageform, soll dem oben beschriebenem Spannungsfeld Rechnung getragen werden.
Die Frage der Rechtfertigung, ist die Grundlage des Friedenszeugnisses
Ich glaube, dass die Begründung der Gewaltfreiheit besonders kniffelig wird, wenn man von der kollektiven Vorstellung einer Erlösung ausgeht, also das Reich Gottes als eine kollektive Aufgabe und Voraussetzung für kollektive Erlösung sieht. Dann steht man nämlich vor dem Problem, eine Handlungsoption finden zu müssen, die nicht nur dem eigenen Heil dient, sondern für die Erlösung aller sorgen soll. Schwierig nur, wenn mein Gegenüber gar keinen Bedarf für Erlösung sieht und lieber (in meinen Augen) in Sünde weiter leben möchte.
Im Alten Testament lebten die Israeliten auf ihrer Wanderschaft oder später in ihrem eigenem Land unter ihres Gleichen. Die Gemeinschaft sonderte sich ab. Das Verhältnis zu Gott wurde als ein kollektives Verhältnis zur Gruppe verstanden. Wenn es den Israeliten schlecht ging, wurde das als Strafe und kollektive Schuld verstanden. Die Gemeinschaft mit sündigen Menschen zu teilen, bedeutete selbst schuldig zu werden. Die Erwartung der Ankunft des Heiland, wurde auch als kollektives Ereignis erwartet. Das Reich Gottes würde für alle Israeliten vom Messias erschaffen werden. Diese Denkweise führt dazu, dass man sein eigenes Heil, mit dem Verhalten anderer verwoben sieht 9.
Im Neuen Testament verändert sich das Bild vom Reich Gottes. Lukas 17,20+21
Die Pharisäer wollten von Jesus wissen: »Wann wird Gottes Reich kommen?« Er antwortete ihnen: “Gottes Reich kann man nicht sehen wie ein irdisches Reich. Niemand wird sagen können: ‘Hier ist es!’ oder ‘Dort ist es!’ Denn Gottes Reich ist schon jetzt da – mitten unter euch.” 10
Als Jesus in Lukas 19,1-10 mit Zachäus, dem jüdischer Zollpächter aus Jericho zusammen isst, gilt dies als Skandal. Das zeigt, dass es auch ein Richtig im Falschen geben kann. Der Buddhismus hat als Sinnbild derErlösung die Lotusblume gewählt. Sie hat eine besondere Eigenschaft. Die Blätter des Lotos sind flüssigkeitsabweisend, Wasser und Schmutz perlen einfach ab. Dadurch bleiben die Blätter stets sauber und es können sich keine Pilze oder andere Organismen auf ihnen ausbreiten, die der Pflanze schaden könnten 11. Das Ziel des christlichen Pazifismus sehe ich deshalb nicht darin, alle Kriege und Gewalt abzuschaffen, sondern nicht persönlich daran schuldig zu werden.
Ist es legitim zu fragen, was hätte Jesus getan?
Der Einwand, Jesus sei eine antike Person gewesen, die man nur in ihrem historischen Kontext verstehen und deuten dürfe, blendet aus, dass Jesus für viele Christen noch immer unter ihnen lebt und wirkt. Für christozentrische Quaker12 spricht Jesus als inneres Licht (oder “innerer Christus”) immer noch unmittelbar zu jedem Menschen und ist somit nicht nur ein “antiker Mensch” 13. Jesus in der Bibel wird nicht nur ausgelegt und interpretiert, sondern der als Inneres Licht Wahrgenommene, wird anhand der Bibel hinterfragt und überprüft, ob derselbe Geist zu uns spricht, der in der Bibel zu finden ist. Beides: Inneres Licht und Bibel werden gegeneinander abgewogen. Das Innere Licht ist Offenbarung, die sich zu allen Zeiten in allen Menschen zeigt. Aber nicht jeder Mensch entschließt sich diesem Licht zu folgen. Solange man in Egoismus, Hass und Verblendung verharrt, wird sich der Geist verdunkeln und taub für die mahnende innere Stimme sein, die zum Licht und den richtigen Entscheidungen führt. Deswegen wird in der Quaker-Versammlung gemeinsam und auch kritisch, nach dem Willen Gottes geforscht. Hierzu noch einmal die Ratschläge und Fragen der Quaker:
Stelle dein ganzes Leben unter die Führung des Geistes Christi. Bist du offen für die heilende Kraft der Liebe Gottes? Halte fest an dem von Gott in dir, sodass diese Liebe in dir wachsen und dich führen kann. Lasse deine Andacht und deinen Alltag sich gegenseitig bereichern. Schätze deine Gotteserfahrung, wie auch immer sie dir gegeben wird. Denke daran, dass das Christentum ein Weg und nicht eine intellektuelle Idee ist. 14
Es geht also nicht darum eine Ideologie oder ein Dogma zu formulieren.
Ist Gewalt gleich Gewalt?
Konflikte innerhalb einer Glaubensgemeinschaft oder innerhalb eines funktionierenden Rechtsstaates bzw. zwischen zwei Staaten sind für mich unterschiedlich zu bewerten. Wie gut und erfolgreich die Quaker im 17. Jahrhundert ihre Ansätze in ihrem so genannten “Heiligen Experiment”, der Gründung Pennsylvanias, umsetzten, ist sehr detailliert in dem Buch “Quäker und Recht” nachzulesen 15. Hier haben wir es mit einer Gesellschaft zu tun, deren Glieder sich auf gemeinsame Regeln geeinigt haben und diese einhalten und ggf. auch mit gebilligter Gewalt durchsetzen wollen. Ein hoher Anteil der Konflikte wurde damals außergerichtlich durch Schlichtungsverfahren gelöst, so dass gewaltsame Durchsetzung nicht erforderlich war. Somit kam das Gewaltmonopol des Staates nur selten zum Tragen. Die frühen Quaker hatten den Anspruch im Reich Gottes zu leben und Teil dieses Reiches zu sein. Damit verbunden war das Bestreben, ein einwandfreies Leben zu führen16.
Es gab und gibt fundamental unterschiedliche Ansichten bezüglich der Rechtfertigungslehre. Andere christliche Konfessionen glauben nicht, dass man sündenfrei leben kann und haben auch nicht den Anspruch an sich selbst. Quaker sind deshalb der Auffassung gewesen, dass es Gerichte und staatliche Gewalt braucht für diejenigen, die sich sonst gegenseitig die Schädel einschlagen würden.
Wie unterschiedlich die Ansichten zum Thema Gewalt waren, zeigt die Aussage eines am Pequot-Krieg, 1637, beteiligten Puritanerss:
Mehr als 500 Indianer brieten im Feuer und Ströme von Blut sickerten durch die Palisaden hindurch. Der Gestank war fürchterlich, aber der Sieg war ein süßes Opfer und wir beteten alle zu Gott, um ihm für seinen Beistand zu danken. 17
Deshalb sehe ich Waffenlieferungen an die Ukraine als eine christliche Glaubens- und Bekenntnisfrage. Beim Ukraine-Konflikt handelt es sich um einen Gewaltausbruch ohne übergeordnete Macht, die Recht durchsetzen kann, auf das man sich vorher geeinigt hatte. Es gibt keine Gewaltenteilung, die die angewandte Gewalt kontrollieren könnte. Hier regiert die Macht des Stärkeren, nicht die Macht der Vernunft und des Rechts. Gewinnen wird nicht der, der Recht hat, sondern der sich gewaltsam durchsetzt.
Gewalt als notwendiges Übel? Heiligt das Ziel die Mittel?
Vielleicht gab es mal eine Zeit, in der sich das Volk Israel gewiss sein konnte, Gott auf seiner Seite zu haben und Kriege zu gewinnen. Können wir bei militärischen Konflikten davon ausgehen, dass Gott auf unserer Seite ist und Gewalt billigt ? Wenn wir unsicher sind, ob Gott will, dass wir unser Recht mit Gewalt durchsetzen, es jedoch als notwendiges Übel sehen, uns zu schützen, was in uns bewertet die Anwendung von Gewalt als notwendiges Übel? Ist das tatsächlich Licht Gottes in uns?
Frieden ohne Gerechtigkeit?
Im Ukraine-Krieg wird, wie in so vielen Kriegen zuvor, vielen Menschen Gewalt angetan, viele werden Gewalt erleiden. Viele werden sterben und viele werden an Leib und Seele schwer verwundet werden. Und viele Täter werden danach weiter leben, als sei nichts geschehen.
Denn er [Gott] lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Matthäus 5,45 18
Unser Gerechtigkeitssinn empfindet es als empörend und schwer zu akzeptieren. Die biblische Antwort ist intellektuell wenig befriedigend. Auch der junge Quaker George Fox hat sich darüber den Kopf zermartert. Im Jahre 1647 hörte er eine Stimme, die zu ihm sagte: “Es gibt einen und zwar Jesus Christus, der zu deiner (seelischen) Verfassung sprechen kann.” Durch die Öffnung für das innere Licht erkannten George Fox und später andere Quaker, wie William Penn, dass Leid(en) und Erlösung untrennbar miteinander verbunden sind.
Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben! da Diejenigen, die in fleischlichen Lüsten und Begierden gefangen liegen, das Kreuz nicht erdulden können; und Solche, die das Kreuz nicht tragen, niemals eine Krone erlangen werden. Wollen wir mitherrschen, so müssen wir auch erst mit leiden! 19
Zwischenfazit
Bevor ich zum letzten Punkt komme, fasse ich noch mal Punkt 2 zusammen: Die (frühe bzw. konservative) Quaker-Theologie geht davon aus, dass das Reich Gottes, schon im Diesseits begonnen hat, und dass ein Leben ohne Sünde möglich ist. Es gilt dem Inneren Licht (der “Stimme Gottes” oder auch “dem inneren Christus”) zu folgen. Dies ist ein Prozess von innen heraus, der weder äußerlich erzwungen noch verhindert werden kann 20. Es war weder die Vorstellung der Quaker, die Welt von der Sünde komplett zu befreiten noch vor ihr - der Sünde - als Individuum oder Glaubensgemeinschaft zu kapitulieren.
Pazifismus als Bedrohung
Was ich immer wieder erstaunlich finde, ist wie bedrohlich Pazifismus wahrgenommen wird. Im schlimmsten Fall macht ein Pazifist die Situation doch nicht schlimmer, als sie ist. Ein Pazifist kann doch einen Nichtpazifisten nicht dazu zwingen, pazifistisch zu handeln. Ist es die Angst, dass die “Falschen”, von den man sich (gewaltsame) Hilfe erhofft, zu Pazifisten werden? Aber ist das nicht eine sehr egoistische Motivation?
In Wahrheit sind es doch noch immer die Angreifer, von denen die Gefahr ausgeht und die die moralische Schuld für ihr Handeln tragen. Oder gibt es eine Schuldumkehr oder Beweisumkehr für Pazifisten? Man könnte einwenden, Gewaltfreiheit sei moralisch verwerflich, da es sich dabei um unterlassene Hilfeleistung handle nach Strafgesetzbuch § 323c:
Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 21
Wir reden aber immer noch über Krieg und nicht eine Tat in einer Zivilgesellschaft. Es gibt kein Gesetzbuch, das von allen Ländern der Welt anerkannt und umgesetzt würde. Ein Stück dieses Traums sehe ich jedoch in der EU verwirklicht. Es war übrigens schon der Traum des Quakers William Penn (1644-1718) in seinem Essay towards the Present and Future Peace of Europe22.
Das Gesetz nennt jedoch eine Einschränkung:
[…] ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist […]
Dazu würde auch ein Handeln gegen das eigene Gewissen, gegen die innere Stimme und den damit verbundenen Verlust des Reich Gottes zählen. Das bringt uns zu der nächsten schwierigen Frage, wie man eigene moralische Verpflichtungen mit gesetzlichen Verpflichtungen in Einklang bringt. Aber für die Frage nach dem Ukraine-Krieg bringt uns das erst mal nicht weiter.
Die Logik des Krieges
Die Logik des Krieges ist die Hoffnung, dass mit dem Leid, das ich anderen zufüge oder sie bedrohe, diese davon abhalte mir (oder anderen) Leid zuzufügen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, das funktioniert nicht immer.
Als junger Mann habe ich Amateur-Boxen betrieben. Dabei kam es einmal zu einem Sparring (Übungskampf mit Vollkontakt aber verminderter Kraft) mit einem sogenannten “alten Herren”, einem Senior, der nur noch für seine Fitness trainiert. Beim Boxkampf kommt es darauf an, beim Angriff in Deckung zu bleiben und gegnerischen Schlägen auszuweichen. Gelingt das nicht, bricht man den Angriff ab und versucht aus der Defensive, Fehler in der Deckung des Gegners auszunutzen.
Dieser “alte Herr” war aber nicht mehr in der Lage, meinen Schlägen auszuweichen oder die Deckung geschlossen zu halten. Mit jedem meiner Treffer wurde er wütender, griff unkoordinierter an und bekam weitere Treffer. Der Kampf wurde vom Trainer abgebrochen, als der “alte Herr” völlig die Beherrschung verlor. Die Abschreckung hatte also nicht funktioniert, weil die Wut des “alten Herren”, vermutlich über sein eigenes Unvermögen, ihn davon abhielt, aufzugeben und die Attacken einzustellen.
Quaker guns
Aufrüstung wird häufig damit gerechtfertigtargumentiert, sie diene nur als Drohung, um die gewünschte Verhaltensänderung des Gegenübers zu bewirken, man wolle die Drohung der Anwendung von Gewalt jedoch auf keinen Fall umsetzen. Ähnlich wie der Soldat, der sich nicht traut zu desertieren und absichtlich vorbeischießt, um nicht töten zu müssen. Ist das aufrichtig? Hierzu lesen wir in den Ratschlägen und Fragen:
Bist du ehrlich und wahrhaftig in allem, was du sagst und tust? Verhältst du dich absolut integer in geschäftlichen Angelegenheiten und in deinen Beziehungen zu Einzelnen und zu Organisationen? Gehst du mit dir anvertrautem Geld oder Informationen diskret und verantwortlich um? Einen Eid zu schwören schließt einen doppelten Wertmaßstab für die Wahrheit ein; wenn du stattdessen eine einfache Beteuerung wählst, so sei dir des Anspruchs auf Rechtschaffenheit bewusst, den du dadurch erhebst.
Sind oben genannte Strategien nicht wie Pokern oder Lottospielen? Wenn man mit etwas droht, ist man unter Umständen gezwungen, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht tun wollte, aber dann doch tun muss, um glaubwürdig zu bleiben. Man lädt Schuld auf sich und wird vom Opfer zum Täter, auch wenn man das nicht wollte.
Im Englischen gibt es übrigens den Begriff “Quaker gun”23. amit werden militärische Attrappen bezeichnet, die dem Feind hohe Feuerkraft vortäuschen sollen. Sie sind keine Erfindung der Quaker.
Wer zahlt am Ende die Zeche und wie fällt die Rechnung aus?
Für den Ukraine-Krieg ließe sich eine positive Zwischenbilanz ziehen, was die Wirksamkeit der Waffenlieferungen betrifft, sie hätten die Ukrainer bisher vor der Besatzung durch Russland und der zu erwartenden Gewaltherrschaft bewahrt. Aber wurden bei der Rechnung alle Aspekte einbezogen? Wie sieht die Rechnung am jüngsten Tag aus?
Die Ukrainer leiden unter den russischen Angriffen, auch in den nicht besetzten Gebieten. Tausende Soldaten und Zivilisten sind gestorben, verletzt oder gefangen. Und was passiert mit den Seelen der ukrainischen Soldaten, die andere Menschen getötet haben, um ihre Leute vor Leid zu schützen. Wird Gott ihre Schuld individuell gewichten oder gegen die Schuld anderer aufrechnen? Wenn wir von der schlimmsten Strafe Gottes ausgehen und uns vorstellen, die ukrainischen Verteidiger werden für ihre Taten von Gott verdammt, dann war die Verteidigung der Ukraine für diese ukrainischen Soldaten teuer erkauft.
Liberale Quaker lehnen die Vorstellung einer ewigen Verdammnis ab. Keiner aber kann mit Bestimmtheit sagen, was uns nach dem Tod erwartet. Woran man glaubt, entscheidet aber darüber, wie man bewertet, ob es sich lohnt jemanden zu töten, um ein anderes Leben zu schützen.
In Psalm 49,6-16 24 lesen wir dazu
Warum sollte ich mich fürchten in Tagen des Übels, wenn die Sünde derer, die mich hintergehen, mich umringt? Sie vertrauen auf ihr Vermögen und rühmen sich der Größe ihres Reichtums. Niemals kann ein Mann seinen Bruder loskaufen, nicht kann er Gott sein Lösegeld geben – denn ⟨zu⟩ kostbar ist das Kaufgeld für ihre Seele, und er muss davon ablassen auf ewig –, dass er fortlebe immer, die Grube nicht sieht. Denn man sieht: die Weisen sterben, der Tor und der Unvernünftige kommen miteinander um, und sie lassen anderen ihr Vermögen. Ihr Gedanke ⟨ist⟩, ⟨dass⟩ ihre Häuser in Ewigkeit ⟨stehen⟩, ihre Wohnung von Generation zu Generation; sie hatten Ländereien nach ihren Namen benannt. Doch der Mensch, der im Ansehen ist, bleibt nicht; er gleicht dem Vieh, das umkommt. Dies ist der Weg derer, die unerschütterlich sind, und das Ende derer, die Gefallen finden an ihren Worten: Wie Schafe weidet sie der Tod, sie sinken zum Scheol hinab; und am Morgen herrschen die Aufrichtigen über sie; ihre Gestalt zerfällt, der Scheol ist ihre Wohnung.Gott aber wird mein Leben erlösen von der Gewalt des Scheols; denn er wird mich aufnehmen.
Das klingt wahrscheinlich für nontheistische Quaker verstörend, aber die Vorstellung einer Hölle kann etwas Tröstliches und Versöhnliches haben. Sie kann helfen, damit umzugehen, wenn Täter trotz ihrer Sünden ein gutes Leben haben. Die Schlussabrechnung steht noch aus.
Auch wenn ich für mich in der Wehrlosigkeit den einzigen Weg sehe, um Christus zu folgen, habe ich kein Recht dazu, anderen vorzuschreiben, wie sie ihr Leben zu führen haben und ob sie sich oder andere mit Gewalt verteidigen dürfen oder nicht. Ich weiß, dass sich niemand diese Entscheidung leicht macht.
Update 21.10.2022
Es wurden kleinere Fehler beseitigt und Formulierungen geglättet.
-
Wikipedia “Schleitheimer Artikel” ↩︎
-
Siehe auch Wikipedia Mennonitisch-quäkerische Ökumene ↩︎
-
Die Quäker verweigerten nicht nur den Militärdienst. Sieverteidigten sich weder körperlich, noch übten sie Vergeltung, als ihnen Besitz, Freiheit und Leben genommen wurde. ↩︎
-
Siehe Wikipedia Quäkerzeugnis ↩︎
-
Es gab tatsächlich nicht pazifistische Quaker. Sie entstanden wärend des amerikanischen Bürgerkriegs. Es waren Quaker, die aus Versammlungen ausgeschlossen wurden, weil sie nicht am Friedenszeugnis festhielten. Siehe Wikipedia Free Quakers. ↩︎
-
Matthäus 3,9 in der Hoffnung-für-Alle-Übersetzung ↩︎
-
“Das Quäkertum in Deutschland”, Claus Bernet, Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2016, ISBN-13 : 978-3830089278, Seite 16 ↩︎
-
Punkt 31 aus Ratschlaege und Fragen, Ausgabe 2007, Bad Pyrmont, ISBN 978-929696-38-7 ↩︎
-
Ist das nicht schon Koabhängigkeit? ↩︎
-
In der Übersetzung “Hoffnung für alle”. ↩︎
-
Lotuseffekt (Siehe Wikipedia) ↩︎
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Wie mich. ↩︎
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Wobei die Vorstellung lustig wäre, sich Jesus vorzustellen, dem man erst mal erklären müsste, wie ein Smartphon funktioniert, weil er in seiner Zeitkapsel gefangen ist. ↩︎
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Punkt 2. aus Ratschlaege und Fragen, Ausgabe 2007, Bad Pyrmont, ISBN 978-929696-38-7 ↩︎
-
“Quäker und Recht - die Genese des Rechtswesens in der Gründungphase Pennsylvanias”, Udo Schemmel, LIT Verlag Berlin 2021, ISBN 978-3-643-14862-9, Seite 83, 66% der Streitigkeiten wurden innerhalb von drei Quaker-Zusammenkünften gelöst. ↩︎
-
“George Fox - Aufzeichnungen und Briefe des ersten Quäkers”, Tübingen, 1908, Seite 33 ↩︎
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Wikipedia, “Pequot-Krieg” . Vergleich Wikipedia “Paxton Boys” und die Reaktion der Quaker und Mennoniten. ↩︎
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Matthäus 5,45. Sehe aber auch Psalm 73 ↩︎
-
William Penn, in “No Cross, No Crown”, 3. Kapitel, §6, geschrieben während der Gefangenschaft im Tower zu London. ↩︎
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Das ist stark verkürzt. Mehr Details sind in “Apologie” von Robert Barclay. ↩︎
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Siehe Wikipedia William Penn ↩︎
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Siehe Wikipedia-Artikel “Quaker gun” ↩︎
-
Elberfelder Bibel, Psalm 49,6-16 ↩︎